Abstrakt oder bildhaft? Die so oft gestellte Frage scheint überflüssig. So sehr verfließen die Grenzen zwischen beiden. Gérard Traquandi weicht dieser Frage nicht aus, sein Werk bezeugt, dass er sich ihr stellt.
WARUM MALEN WIR SEIT URZEITEN? WARUM WOLLEN WIR BILDER SEHEN?
Gérard TRAQUANDI: Wir wollen das, was wir durch unsere Sinne schon erfasst haben, nachgestalten. Als ob, die Natur, im weiteren Sinne das, was uns umgibt, nicht ausreicht. Bilder sagen etwas über das Leben aus, und wenn sie eine bestimmte eigene Aussage haben, erzeugen sie dieses Gefühl der Frustration, das uns antreibt. Ich tue weiter das, was Maler seit jeher tun: Empfundenes mit Farben auf die Leinwand übertragen. Und das in einem bestimmten historischen Kontext.
IHR WERK HAT STETS EINE SUGGERIERTE REALITÄT AUSGEDRÜCKT. KÖNNEN SIE UNS MEHR ÜBER IHRE EMPFINDUNG DER REALITÄT SAGEN?
Gérard TRAQUANDI: Ich glaube nicht, das ich etwas suggeriere. Ich wähle Achsen, lasse der Fotografie ihr Darstellungsvermögen und dem Kino seine Erzählkunst. Ich arbeite per Subtraktion. Wenn der Maler Helmut Federle sagt, die Qualität eines Gemäldes läge darin, was es NICHT enthält, stimme ich dem zu.
MIT EINEM IHNEN EIGENEN SPIEL DER FARBEN SCHAFFEN SIE FORMEN, DURCH DIE DIESE REALITÄT LEBENDIG WIRD.
Gérard TRAQUANDI: Das « You see what you see » von Franck Stella ist ein extremer Punkt im Versuch, zur echten Abstraktion zu gelangen. Dem Versuch, die Kunst von der Natur zu emanzipieren. Die Liniengemälde dieses Künstlers beeindrucken mich sehr, aber ich selbst muss immer in die Landschaft zurückkehren, um einen neuen Anlauf zu nehmen, wenn mich eine Serie in eine zu mechanische Arbeitsweise führt. Meine Malerei ist nicht abstrakt ... Sagen wir, sie ist nicht-figurativ.
WIE ERLEBEN SIE DIE FARBE, WIE BEHERRSCHEN SIE SIE?
Gérard TRAQUANDI: Anstatt "Farbe" würde ich sagen "farbige Substanz", der Unterschied ist wichtig. Und ich würde nicht von der Farbe, sondern von den Farben sprechen, denn in ihrem Zusammenspiel gewinnen sie ihre ganze Kraft. Die Wirkung eines Gemäldes beruht zu einem großen Teil auf der Beschaffenheit seiner Oberfläche. Diese Dimension meiner Arbeit wird mir immer wichtiger. Im Laufe der Zeit ist mir klar geworden, dass ich mit dem Lob der Materialien, die ich verwende, das Lob der Natur erreichen kann, das ich anstrebe.
WARUM IST AUCH DIE ZEICHNUNG FÜR SIE WICHTIG?
Gérard TRAQUANDI: Die Zeichnung ist das Grundgerüst meiner Arbeit. Zunächst einmal ist Zeichnen die sparsamste Technik, die ich kenne, und die Sparsamkeit der Mittel ist in der Kunst in meinen Augen eine Tugend. Ich kenne kein besseres Mittel, um mich mit den Sujets, die mich anregen, innigst zu beschäftigen. Zeichnen ist eine Art Meditation, es fordert Konzentration und Entscheidungen, es hilft, sich selbst zu vergessen.
SIE STAMMEN AUS MARSEILLE, EINER STADT, DIE FÜR SONNE UND LICHT STEHT – WIE BRINGEN SIE DAS LICHT IN IHRE GEMÄLDE?
Gérard TRAQUANDI: Licht ist eine Frage der Spiritualität und nicht der Meteorologie.
SIE ARBEITEN GERN IM "GROSSEN FORMAT". WARUM IST DIES FÜR SIE WICHTIG?
Gérard TRAQUANDI: Das Großformat hat viele Vorzüge, am meisten motiviert mich jedoch der Wunsch, mich der Architektur anzunähern. Degas sagte "nur die Freske ist es wert", und ich teile diesen Standpunkt. Das architektonische Programm von Assise wurde im Einklang mit dem ikonografischen Programm entwickelt. Diese Einheit zwischen Architektur und Bild, die man in der Unterkirche von Assisi mit den Fresken Cimabues betrachten kann, bleibt für mich einer der Höhepunkte der abendländischen Kunst. Von einer Gesellschaft, die so ambitionierte Projekte verfolgt, können wir immer noch träumen. Für mich liegt die Zukunft der Malerei in diesem Bereich. Die Frage, des Bestimmungsort eines Bildes ist genauso wichtig wie die Fragen nach seinem Inhalt. Das Problem des Kontexts ist entscheidend. Gérard TRAQUANDI wurde 1952 in Marseille geboren. Er lebt in Marseille und Paris. Er arbeitet mit verschiedenen Techniken: Malerei, Fotografie, Zeichnung. Abschluss der Kunsthochschule Marseille und Gastprofessur an der Pariser Kunsthochschule ENSBA 2002-2003. Bis 1995 Lehramt an der Kunsthochschule Marseille, der Architekturhochschule Marseille und der Kunsthochschule Nîmes. Ausstellungen der letzten Jahre:Musée Cantini in Marseille, Institut Français in Berlin; Artothèque Pierre Tal-Coat in Hennebont; Kunstmuseum in Valenciennes und Maison Européenne de la Photographie in Paris ... Seine Werke sind Teil der Sammlungen des Musée Cantini in Marseille, des Museums von Gap, des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst in Nizza; des Museums von Toulon, des Museums von Morlaix, des Kunstmuseums von Nantes, des FNAC in Paris ...